9. April 2012

Kurzgeschichte 1: Erlösung


Langsam atmete das Mädchen ein und aus. Sie genoss es, alleine zu sein und nichts tun zu müssen. Kein Geschrei, kein Schluchzen, kein Heulen. Gar nichts. Früher hasste sie die Stille, doch inzwischen hat das Mädchen sie lieben gelernt. Ihre Schwester war bei einer Freundin, ihre Mutter war immer noch arbeiten und ihr Vater... keine Ahnung. Wahrscheinlich stand er im unteren Stock und genehmigte sich ein Glas Schnaps nach dem anderen. Bis die Flasche leer war. Und die nächste. Wenn ihre Mutter ihn nicht aufhielt, trank er, bis er nicht mehr konnte.
Welche Gründe er hatte, war dem Mädchen unklar. Warum? Warum tat er das? Warum musste er so viel zerstören? Inzwischen konnte sie ihrem Vater nicht einmal mehr in die Augen sehen. Sie konnte es nicht mehr. Ihr Vertrauen in ihn war weg.
Wie sollte das Mädchen irgendwann wieder normal mit ihm reden? Sie hatte keine Antwort auf all die Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten. Bis vor kurzem lebte das Mädchen noch in einer heilen Welt. Sie machte sich Sorgen und Gedanken um ihre Freunde, die Liebe, die Schule und sonstige Dinge, die Jugendliche in ihrem Alter so beschäftigten. Früher war sie manchmal unzufrieden mit sich und ihrer Situation, doch nun wünscht sie sich ihr altes Leben zurück. Ein Leben, in dem sie nicht so viel Verantwortung übernehmen musste. Ein Leben, in dem sie mehr oder weniger tun und lassen konnte, was sie wollte, sofern sie ein paar Vorschriften einhielt. Die Regeln machten ihr nichts aus.
Das Mädchen war früher stolz, wenn sie sagen konnte, sie habe eine heile Familie. Das gehört der Vergangenheit an. Ihre Familie war alles andere als toll. Es war alles andere als ein Zusammenhalt. Das Mädchen sorgte dafür, dass ihre kleine Schwester gute Noten in der Schule schrieb. Natürlich litten ihre Noten darunter. Zwischen Geschrei, Streit und dem Schulkram der Kleinen blieb nicht viel Zeit für sie. Wenn sie am Tag ein paar Minuten für sich hatte, verbrachte das Mädchen diese bei Freunden oder in ihrem Zimmer. Sie sperrte sich ein, drehte die Musik auf und klappte ihren Laptop auf. Im Internet fand sie jemanden, dem sie alles anvertrauen konnte, der sie verstand. Ein paar Freunde, die sie aufmunterten und ihr helfen wollten. Doch ihr konnte niemand helfen. Wie sollten sie auch? Was konnten sie tun? Sie taten schon genug, indem sie dem Mädchen zuhörten und sie irgendwie doch zum Lachen brachten.
"Irgendwann werde ich gehen", sagte das Mädchen in die Stille. "Irgendwann werde ich diesen Ort verlassen. Ich werde mich nicht mehr umdrehen. Ja, ich werde gehen." Kaum waren diese Worte ausgesprochen, stand sie auf, ging zu ihrem Schreibtisch und holte ein Schulheft heraus, um noch ein wenig für den morgigen Test zu lernen. Es musste ja sein. Ihr blieb keine andere Wahl, wenn sie hier so schnell wie möglich weg wollte. Noch ein Jahr länger würde sie nicht schaffen. Nach knapp drei Monaten ist das Mädchen seelisch am Ende ihrer Kräfte angekommen. Sie kann und will nicht mehr.
Die Minuten vergingen und wurden zu Stunden. Nichts im Haus rührte sich. Das Mädchen konzentrierte sich gerade auf ihre Hausaufgaben, als sie ein Ächzen hört. Sie denkt sich nicht viel dabei. Das Haus, in dem sie und ihre Familie leben, besteht zu einem großen Teil aus Holz. Es gibt öfters solche Geräusche von sich. Dennoch dreht sie die Musik etwas leiser.

Das Mädchen arbeitet weiter an der Aufgabe, die sie vorhin begonnen hatte. Einige Sekunden, die ihr wie Minuten erscheinen, verstreichen. Sie hört, wie die Haustür schließt. "Endlich", sagte das Mädchen zu sich selbst. "Jetzt bin ich wenigstens nicht mehr allein zu Hause mit ihm." Ihre Mutter und ihre Schwester rufen ein kurzes "Hallo". Alle zu Hause. Das Mädchen schließt ihre Hefte, packt ihre Schultasche für den nächsten Tag und geht nach unten, um ihre Mutter zu begrüßen. Sie schloss gerade die Tür zu ihrem Zimmer, als sie Schreie hörte. Hilfeschreie.
Ihre Schwester kreischte. In ihrer Stimme lag Angst. Panisch schrie sie weiter, bis sie verstummte. Das Mädchen blieb auf dem Weg zur Treppe stehen und lauschte. Man hörte ein Keuchen, gefolgt von einem Geräusch, das sie nicht erkannte, bis alles wieder still wurde. Nichts rührte sich im Haus. Die Zeit schien still zu stehen. Das Mädchen zitterte. Was würde sie unten erwarten? Sollte sie überhaupt runtergehen?
Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Langsam stieg sie die Treppen hinunter. Eine nach der anderen. Sie versuchte, so leise wie nur möglich zu sein. Das Mädchen gab kein Geräusch von sich. "Papa?", rief sie, bevor sie den Raum betrat. Sie hörte, wie ihr Vater sein Glas auf den Tisch stellte und sich langsam in Richtung Tür bewegte. Sonderlich schnell fortbewegen konnte er sich nicht. Das Mädchen ging zur Tür und öffnete diese. Sie sah am Boden vor dem Eingang zur Küche eine Blutspur. Sehr viel Blut. Dem Mädchen wurde beinahe schwarz vor Augen. Ihr Blick wanderte von der Blutspur zu ihrem Vater, der nur noch ein paar wenige Meter von ihr entfernt war. In der rechten Hand ein Messer.
"Hast du deine Hausaufgaben schon erledigt?", wollte ihr Vater wissen. Hausaufgaben. Wie konnte er in diesem Moment nur danach fragen. Das Mädchen nickte. Ihr Vater ging wieder zurück und genehmigte sich ein weiteres Glas Schnaps. Sie stand in der Tür, am Eingang zur Küche das Blut, ihr Vater nur einige Schritte davon entfernt. Vorsichtig näherte das Mädchen sich der Küche. Sie wusste nicht, was sie dort erwarten würde. Ihren Vater ließ sie vollkommen aus den Augen, als sie sah, was nur kurze Zeit vorher passiert war. Ihre Mutter lag blutüberströmt am Boden. Sieben Stiche in die Brust. Ihre Mutter sah ihr in die Augen. Man sah in ihrem Blick, dass es ihr leid tat. Ihr tat es leid, dass sie ihre Kinder in diese Geschichte hineingezogen hatte. Ihr tat es leid, was ihr Mann tat. Dann schloss sie ihre Augen für immer. Das Mädchen brach zusammen. Schluchzend saß sie neben ihrer Mutter.
Da erblickte sie ihre kleine Schwester, die zur Seite gedreht neben dem Tisch lag. Sie kehrte ihr den Rücken zu. Ihr T-Shirt war voller Blut. War das ihr Blut oder das ihrer Mutter? Das Mädchen wollte ihre Schwester nicht umdrehen. Sie hatte Angst. Große Angst vor dem, was sie erblicken könnte.
Plötzlich stand ihr Vater hinter ihr. Er packte das Mädchen an der Schulter und riss sie hoch. Sie sah den Wahnsinn in seinen Augen. "Warum?", flüsterte das Mädchen.

Das letzte, was das Mädchen sah, waren die Augen ihres Mörders.
Das letzte, was das Mädchen spürte, waren sieben Stiche.
Das letzte, was das Mädchen wahrnahm, waren diese Schmerzen im Brustbereich.
Das letzte, was das Mädchen vor sich sah, war die Klinge des Messers, die ihr alles nahm und sie gleichzeitig von allem erlöste.

Zwei Wochen später verschaffte sich die Polizei Zutritt zu der Wohnung. Es roch nach Verwesung. Die Polizei fand vier Leichen. Eine Frau und zwei Kinder in der Küche. Erstochen. Mit sieben Stichen in der Brust. Und einen Mann. Auf dem Sofa. Mit durchtrennten Hauptschlagadern. Seine Hand umklammerte die halbleere Schnapsflasche.



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