31. Mai 2012

Kurzgeschichte: Zahltag





Kreischen. Menschen, die an mir vorbeirennen. Ein Mann, der mich übersieht und zu Boden stößt. Panik. Angst in ihren Augen. Ich komme nicht mehr hoch, die Menschenmasse läuft mich immer wieder nieder. Keine Chance. Ein einziger Wille. Überleben.

Ein ohrenbetäubender Lärm. Schüsse in der Ferne. Weiteres Kreischen. Schluchzen, Flehen und Heulen. Todesangst erfüllt ihre Stimmen und lässt mir die Haare zu Berge stehen.

Plötzlich sehe ich meine Chance, stehe auf und renne mit ihnen. Wohin? Ganz egal. Hauptsache weg von hier. Weit weg von diesen Verrückten, die mit Waffen auf uns schießen. Wahllos in die Menschenmenge hinein. Ist es ihr Ziel, möglichst viele zu töten?

Noch mehr Schreie. Eine Frau, die dort am Boden kniet, ihr Gesicht in einen jungen, leblosen Körper gräbt. Ein Mann dort in einer Ecke – zusammengekauert, seine Hände gefaltet.
Ich renne weiter, alles um mich herum scheint zu verschwimmen, unscharf zu werden, so fern und doch so nah.

Plötzlich steht einer von ihnen vor mir, hält mir die Waffe an die Schläfe und packt mich am Arm. Er zerrt mich weg, weg von der Menschenmasse, stößt mich in ein Auto. Ich wollte schreien, mich zur Wehr setzen, um mich schlagen, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr.

Ein anderer fesselt meine Arme und Beine, klebt Klebeband auf meinen Mund und ich lasse all dies über mich ergehen. Der Mann, der mich gefangen hatte, steigt ein und fährt los. Wohin bringt er mich? Was habe ich ihnen getan?
Eine Träne rinnt über mein Gesicht. Ich möchte leben! Ein ganz normales Leben führen. Nein, es musste nicht aufregend sein.

„Jetzt wirst du für all deine Taten büßen!“, brüllt der Mann mit einem finsteren Lachen. Ich zucke zusammen, lege mich auf der Rückbank nieder und hoffe auf ein Wunder. In meinem Kopf drehten sich die Zahnräder, um eine Antwort auf die Frage zu finden. Verdammt, was habe ich euch getan?

Langsam erwacht mein Körper aus seiner Starre. Ich spüre meine Arme und Beine, möchte mich von den Fesseln befreien, doch es geht nicht. Panik, die sich ins Unermessliche steigert. Dieser Mann, der mich immer wieder ansieht und mir ein grauenhaftes Grinsen schenkt. Ich will hier raus!

Der Wagen kommt zum Stillstand, der Mann steigt aus und verbindet mir die Augen. Dunkelheit. Dieser feste Griff an meinem Oberarm, der mich aus dem Auto zerrt. Eine Tür, die hinter uns in das Schloss fällt. Eine weitere, aber quietschende Tür. Ein Tritt in meinen Rücken. Ich falle nach vorne und die Tür hinter mir zu. Wo bin ich hier? Was soll ich hier?

Die Zeit vergeht. Niemand rührt sich. Niemand meldet sich. Niemand sagt mir, was los ist. Bis ich plötzlich das Knarren der Tür vernehme. Er reißt den Klebestreifen von meinem Mund und nimmt den Stofffetzen von meinen Augen. Es ist immer noch so dunkel hier. Die Tür schließt sich, er schaltet das Licht an und ich bin für einen kurzen Augenblick geblendet.
„Aufstehen!“, brüllt er mich an.
„Ich kann nicht“, schluchze ich.
Meine Blicke wandern nach oben. Sein Gesicht. Es kommt mir so bekannt vor.

„Na, erkennst du mich? Heute ist Zahltag! Ich hoffe, du bereust es, dass du mir damals das Leben zur Hölle gemacht hast!“

Ich sehe es vor meinen Augen. Ein kleiner Junge, der von seinen Mitschülern ausgeschlossen und fertig gemacht wurde. Ein kleiner Junge, der weinend nach Hause geht. Dieser kleine Junge ist erwachsen geworden und hat es nie verkraftet.

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9. Mai 2012

Schreien, weinen, fluchen ...



Schreien zu wollen, 
weinen zu wollen, 
fluchen zu wollen, 
doch nichts davon ist möglich.

Ausbrechen, 
frei sein, 
glücklich sein, 
unmöglich.

Schreien,
dieser Wut freien Lauf lassen.

Weinen,
diese Gefühle nicht länger unterdrücken.

Fluchen,
über dich? Nein, über meine eigene Naivität. 



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